Odyssee zur Wiege des Lebens


Die in jedem Menschen schlummernde Urerinnerung an seine Wurzeln ist eines der Geheimnisse der Schöpfung. In unserer von Technik, Hektik und Reizüberflutung geprägten Zeit ist ihre Gegenwart jedoch kaum noch zu spüren. Bekannte Ausdrucksformen können nur ein vages Bild von ihr wiedergeben. Das neugierig ins All schauende Auge unseres Wissens kann sie nirgends mehr in unserem Wesen erblicken. Trotzdem begeben sich heute immer mehr Menschen überall auf der Welt auf eine Spurensuche, um etwas wieder zu finden, dass sie in sich vermissen.


Aber weshalb gelingt es den Fähigkeiten unseres Verstandes so schwer, diese Erinnerungen zu erreichen? Sprechen sie vielleicht die Sprache, mit der alle Wesen unserer großen irdischen Familie auf einer außerhalb des menschlichen Bewusstseins existierenden Ebene miteinander kommunizieren? Können uns die sich in ihrem Verständnis verbergenden Antworten helfen, das durch Menschenhand strapazierte Gleichgewicht der Umwelt wieder herzustellen?


Doch waren es nicht Fragen existenzieller Natur, die Sreeraj Gopinathan, den von der Südküste Indiens stammenden Künstler zur Wiederbesinnung anregten. Vielmehr, wie er sagt, ein innerer Ruf. Sein Vorhaben bezeichnet er als Rückkehr zur Wiege des Lebens, zurück zum Essenziellen, um die vergessenen Weisheiten zu finden. Sein kurz nach der Jahrtausendwende initiiertes Projekt, wurde für ihn selbst zu einer elementaren Erfahrung mit überraschenden Entdeckungen.


Das Ziel vor den Augen, die Nabelschnur zur Natur wieder zu erspüren, die er in der sich immer schneller drehenden modernen, westlichen Gesellschaft zunehmend vermisste, folgte Gopinathan einer Sehnsucht, die ihn vom Strudel der Zivilisation fortzog. Wahrscheinlich war es sein bereits in der Technikwelt versunkenes künstlerisches Streben selbst, das nach einem Ausgleich verlangte - der Verbindung mit dem Kraftquell, auf dem wir alle leben, der Erde. Demgegenüber färbten die an Aktualität gewinnenden umweltlichen Veränderungen seine Reflexionen mit ausschlaggebenden Ansätzen. Daraus formte sich seine Suche nach umsetzbaren Lösungen, welche die Menschen zu einem gemeinsamen Handeln animieren könnten.


OWIYAM - der Name des Projekts, steht in der altdrawidischen Sprache für Kunst, andeutungsweise aber auch für Leben. Die Wahl der Betitelung spiegelt das Schaffensmuster Gopinathans, welches das Sein als Ganzheit erfasst, wider.


Für die Umsetzung, mit der er 2003 begann, wählte Gopinathan ein in Naturschutzgebiete eingebettetes idyllisches Tal an der Südspitze Indiens, am Fuße der Nilgiris - der Blauen Berge von Kerala. Die kleine, abgelegene Ortschaft ist nicht nur angesichts ihrer artenreichen Naturvielfalt und geringen Bevölkerungsdichte bekannt, sondern insbesondere wegen ihrer bis heute erhaltenen Steinbehausungen der Urbevölkerung, die vor mehr als 10.000 Jahren diesen Landstrich bewohnten.


An den Projektarbeiten waren außer einem Team ökologisch engagierter Künstler und Architekten auch die noch naturverbunden lebenden Ureinwohner der Gegend beteiligt. Zielsetzung war es, eine UNITÄT aus Naturelementen und menschlicher Kreativität zu erschaffen. Dafür mussten als Erstes Teile des Areals, auf denen der primere Pflanzenwuchs verloren war, wiederbewaldet werden, um eine dem Ursprung nahe kommende Vegetation zurück zu gewinnen.


Im Jahr 2005 entstanden die ersten Bauten fast ausschließlich aus Naturmaterialien der unmittelbaren Umgebung. Die mit der Erde verbindende Bauweise aus Lehm, Stroh und Granitsteinen machte die Berührung mit dem Irdischen allgegenwärtig und nahezu spürbar, da die künstlerisch gestalteten Bauelemente alle Eigenschaften der Natur vereinten - Strukturen, Farben und Formen, die uns seit jeher vertraut sind.


So konnte der Strom der Urkraft auch in Bereichen menschlicher Aktivitäten, die das Denken und Fühlen einschließen, ununterbrochen weiter fließen. Gleichzeitig fand durch die Aufforstung und Bepflanzung mit einheimischen Gewächsen eine Renaturalisierung des Areals statt. In der Folge entwickelte sich ein reichhaltiges Biotop - eine Arche Noah für seltene Pflanzen, das einerseits für das angestrebte, Lebensenergie spendende Klima sorgte, andererseits eine Selbstversorgung möglich machte.


Die dem Konzept Gopinathans zu Grunde liegenden Studien basierten weitgehend auf Selbsterfahrung. Ohne eine präzise Projektplanung ließ er sich praktisch "nur von der Natur" leiten. Die von der malerischen Landschaft und den in Naturbauweise verwendeten Materialien ausgehende, fast greifbare Harmonie dieses Ortes bereiteten ein ideales Schaffensfeld und einen Inspiration spendenden Rückzugsort für den Künstler.


Aus der Gesamtheit der Erkenntnisse, die für Gopinathan selbst zu einer Reanimierung seiner Sinne wurden, kristallisierte sich sein nachfolgendes mehrdisziplinäres Projekt SAMASYA, das eine aktive Beteiligung des Publikums impliziert, heraus.


Inhaltlich stellt sein Konzept Lösungsansätze für eine Sensibilisierung der Wahrnehmung vor, die letzten Endes dazu beitragen sollen, ein kollektives Bewusstsein zu formen, das auf eine zukunftsorientierte Existenz des Menschen auf der Erde ausgerichtet ist.


Im Verlauf der Projektentwicklung fernab der Zivilisation offenbarte sich Gopinathan ein Bild, in dem sich die bis dahin wahrgenommenen Grenzen zwischen dem menschlichen Selbst und der Endlosigkeit auflösten.


Ein unerwartetes Erlebnis für den mit der rationalen Welt vertrauten Verstand des Künstlers. Zum einen widersprach es zwar der ihn prägenden Vorstellung vom Getrenntsein des Menschen und seinem Lebensgefüge. Andererseits enthüllte es aber eine bekannte Vertrautheit, eine Art unsichtbares Band, das ihn wieder zu seinen in der Ferne begrabenen Kindheitserinnerungen zurückführte.


Dieser dem Wiedererwachen bereitende Weg war für Sreeraj Gopinathan eine Neuempfindung des Planeten, den wir unsere Heimat nennen. Die Erde als Lebenswurzel - nicht eine getrennt voneinander stattfindende Existenz organischer und anorganischer Materie, sondern ein einziges, lebendiges Geflecht, das alles mit allem verbindet.


Für die in das Projekt einfließende Umsetzung dieses neuen Gedankens - oder besser Gefühls - war ein einschneidender Kompromiss nötig, um beim Publikum das eigene Gespür für das allgegenwärtige Mysterium wieder emporkeimen zu lassen. Dazu musste das Netz der Trennlinien, mit dem sich der Mensch seine Einheitssicht auf das Sein verbaut hat, zuerst zum Einsturz gebracht werden. Denn für Gopinathan war die Voraussetzung für das Wiedererlangen der Erinnerung an das Ursprüngliche das Zusammenbrechen der dualen Scheinbilder, der Konstrukte "menschlich gerahmter Denkmuster", wie man auch sagen könnte.


Das OWIYAM Projekt verweist auf eine praktikable Möglichkeit, den Einklang zwischen Mensch und Erde wieder herzustellen. Gopinathans Miniaturuniversum zeigt, wie ein auf das reale Leben übertragbares, künstlerisches Unterfangen unter aktiver Mitwirkung der Natur gelingen kann.


Das Bild vom Menschen nicht als Schöpfer, sondern als Teil eines undurch-schaubaren Geschehensprozesses, der sich von einem winzigen, irdischen Szenario aus bis weit in die Unendlichkeit erstreckt, wollte der Künstler durch sein Experiment selbst erleben. Dies veränderte sowohl seine Weltanschauung, als auch in ebenso tief greifender Weise sein gesamtes Schaffen.


Das sich stetig weiter entwickelnde Projekt könnte ein lebendiges Lehrbuch werden, das mehr als nur Wissen vermittelt. Es soll dabei unterstützen, die zersplitterte Gefühlsebene zwischen dem Menschen und seinen irdischen Wurzeln wieder zusammenzufügen.


Verfasst von Margit Hess

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